Lucio zog den zerfransten Strohhut tiefer ins Gesicht. Die Terrasse stand dank der Lehmmauern zwar im Schatten, aber selbst am späten Nachmittag war die Sonne im Balash gnadenlos. Er zog die kühlen Hallen der Akademie jedem Aufenthalt im Freien vor, insbesondere in dieser Hitze. Die Ironie, die in der Wahl seines nächsten Reiseziels lag blieb ihm nicht verborgen. Aber auch auf Maraskan gab es feine Brisen, schattige Täler und wohltemperierte Weinkeller…nicht wahr? Seine Gedanken wanderten und im Halbschlaf sah er Bilder von schneebedeckten Palmen an Stränden mit glasklarem…
„Was mich wirklich wundert…“ Die Stimme riss ihn hoch und seine dünne Pfeife flog durch seine schreckhafte Bewegung ins tiefe Gras. „…wie kannst du so ruhig bleiben, wo der Rest der Leute hier so angespannt ist?“ Lucios Puls pochte gegen seine Schläfen. Daran würde er sich nie gewöhnen… „Ich sage das zum letzten Mal…Sprich mich nie ohne Vorwarnung an“. „Junge, Drohungen funktionieren deutlich besser, wenn man irgendeine Art von Druckmittel vorweisen kann. Ein Vorteil, den ich auf deiner Seite nicht erkennen kann. Also, zurück zu meiner Frage…“ „Ich könnte mir eine Augenklappe besorgen.“, erwiderte Lucio, noch immer aufgeregt. „Wir wissen beide, dass das eine leere Drohung bleiben wird. Du schläfst ja nicht mal mit geschlossenen Augen… Nein, ich denke wir sollten beginnen zusammenzuarbeiten. Ich sage dir, was wir tun werden, und du tust es. Eine Beziehung auf Augenhöhe, du verstehst…“ Lucio setzte sich auf und ignorierte den Scherz. „Also, ich bin wach…was willst du?“
„Ich frage noch einmal: Wie kannst du so ruhig bleiben? Die Große Bresche ist im Meridian, alle Sterblichen zittern um ihre Seelen und die Jenseitigen streunen durch die Gassen. Sogar ich beobachte die Sphärenstrukturen besorgter als sonst. Du aber … schläfst hier in Borbra lächelnd auf einer Strohliege.“ Lucio sah sich um und gestand sich ein, daß das Auge durchaus recht hatte. Seine neuen Partner hatten sich im hiesigen Tsatempel verschanzt als ob der Angriff Sadrak Whassois bevorstand und die Dörfler verbarrikadierten ihre Häuser und Ställe schon vor Tagen und waren praktisch unsichtbar. Borbra wirkte wie ausgestorben. „Ganz einfach…es ist still“, murmelte Lucio, deutlich entspannter. „Ah…“. Die Stimme in seinem Kopf klang verständnisvoll, aber Lucio wusste, das er noch nicht zufrieden war. „Er ist … fort? Ich weiss nicht wohin, oder wie lange, aber Er ist weg. Ich glaube es hängt mit dem Segen des Raben zusammen, und wenn der Herr Boron mir eine Auszeit gönnt, dann werde ich sie ganz bestimmt nicht ausschlagen. Wenn also der Namenlose verlangt, daß ich zittere muss er sich diesmal leider etwas mehr anstrengen. Aber vermutlich weiß auch er, das diese Verschnaufpause nur von kurzer Dauer ist, also macht er sich nicht die Mühe.“ „Ich verstehe. Und wenn Er wiederkommt…läufst du wieder weg?“ Die Provokation war deutlich, und Lucio schnappte zurück: „Ich laufe nicht weg, ich gewinne Zeit. Ich dachte, du hättest den Unterschied mittlerweile verstanden!“ „Zeit wofür?“ „Zeit zu verstehen, was Er ist, warum Er ist. Er will etwas, und solange ich nicht weiß, was das ist ….“ „…wirst du ihn nie vernichten“, beendete die Stimme in seinem Kopf den Satz, mit einer gewissen Genugtuung. „Wir sind uns ähnlicher als du je vermuten würdest, Lucio von Fasar.“ Die Stimme gewann einen bedrohlichen Unterton. „Halt an dieser Wut fest, mein Freund. Dieser Antrieb wird dich weiterbringen, wird dich wachsen lassen. Es wird die Zeit kommen, in der du Seiner gewachsen bist. Und ich werde dir dabei helfen….wenn du mir hilfst.“ Lucio spürte den Tatendrang, den Durst nach Rache…und wusste, daß es nicht seine Emotionen waren, die ihn übermannten. Oder doch? Es war so schwierig sie zu trennen…
Es dauerte einen Moment, aber er brachte sich wieder unter Kontrolle. „Die Lust nach Rache allein reicht aber nicht aus, mein kleiner roter Freund. Wenn ich nicht vorsichtig bin wirst du dir bald einen neuen Träger suchen müssen. Ich habe gesehen, was passiert, wenn man sich Ihm unvorbereitet gegenüberstellt.“ „Du meinst den Mann in Punin. Ich habe die Bilder gesehen...du träumst sie oft. Das sah grausam aus, das muss ich dir lassen. Wer war der arme Kerl?“ Die Stimme klang unerwartet einfühlsam und wirklich interessiert. „Er …war ein Narr.“ Lucios sprach langsam, den Kopf gesenkt. “Er war mutig, wie es alle Narren sind. Er war ungeduldig, verzweifelt und entschlossen. Und er war überzeugt die Liebe auf seiner Seite zu haben.“ Seine Faust ballte sich erneut, und Lucio hob den Blick wieder. „Aber vorallem war er eins: Er war mein Bruder.“